Momentaufnahme: Der blinde Pendler

Ein kleiner Text über eine wahre Begebenheit, die ich diese Woche erlebt habe.

Der blinde Pendler

Ich fuhr heute kurzfristig zum Bahnhof. Meine Mutter brauchte eine Fahrkarte und musste hierfür im Servicebereich der Deutschen Bahn an einen Schalter. Die Wartezeit war länger als erhofft, also entschied ich mich, mich im Zeitschriftenladen umzusehen. Ich ließ mir viel Zeit, ging sorgfältig durch die Auslage, kaufte einige Zeitschriften und kehrte in den Wartebereich zurück.
Auf dem Weg dorthin passierte mich von der Seite ein Mann. Er schnitt mich so scharf, dass ich einen Satz zurück machte und kurz davor war ein „Hey!“ oder ein „Achtung!“ auszustoßen, ehe ich erkannte, dass der Mann blind war. Er fuhr mit seinem Stock pendelnd über die weißen Fließen, die als Orientierungshilfen im gesamten Bahnhof verlegt waren. Links rechts, links rechts. Wie ein Uhrwerk schritt er die Felder zielsicher entlang, selten gestört durch einen Fuß, der nicht schnell genug beiseite springen konnte. Ich ließ von ihm ab, betrat den Wartebereich und tippte meiner Mutter auf die Schulter.

„Noch sechs Personen warten vor mir.“ Ihr Blick war von der Art unruhiger Genervtheit, wie ihn nur eine Wartebereich erzeugen konnte.
„Dann bringe ich die Zeitschriften schon einmal zum Auto und löse das Parkticket nach.“ Ein Euro für eine halbe Stunde parken am Bahnhof. Das war auch schon einmal günstiger gewesen, denke ich mir, lege die Zeitschriften ins Auto und lasse es dieses Mal darauf ankommen. Als ich zurückkehre sehe ich im Augenwinkel, wie der blinde Mann erneut an der Eingangstür vorbei pendelte. Weiterhin zielstrebig. Links rechts, links rechts. Die Menschen teilten sich vor ihm und schlossen sich dahinter, wie die Fahrzeuge auf der Autobahn für einen Krankenwagen. Hatte er etwas vergessen? Oder schlimmer, hatte er sich gar verlaufen?

Ich verwarf den Gedanken und tröstete mich, dass Blinde in der heutigen Zeit ja eigentlich sehr selbstständig sind. Ein Restzweifel verblieb.
„Nur noch drei vor mir.“ sagte meine Mutter und ich bedeutete ihr trotzdem draußen zu warten. Einerseits mochte ich die Stimmung im Wartebereich nicht, andererseits ging mir der blinde Mann nicht aus dem Kopf. Kaum war ich vor der Servicestelle, kam er wieder auf mich zu gependelt. Links rechts, links rechts. Einige Schülerinnen, die laut kicherten, hatten ihn nicht bemerkt und sein Stab schob sie unbeholfen beiseite und er geriet ins Stocken. Dann suchte sein Stab vergebens die weißen Fliesen. Er drehte sich, suchte weiter links, ging unsicher einen Schritt, suchte weiter rechts. Dann fand er einen Pfad, doch dieser sollte ihn direkt in den Servicebereich der Deutschen Bahn führen. Ich zögerte erst, betrachtete die anderen Personen, die das Spektakel beachteten, aber niemand tat etwas. Die automatische Tür öffnete sich und der blinde Mann betrat den Wartebereich. Ich folgte ihm, trat schüchtern von der Seite an ihn heran und versuchte ihn möglichst nicht zu erschrecken.
„Entschuldigung… kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Hallo?! Ja!?“
„Wo möchten Sie hin?“
Er dreht sich zur falschen Seite und sprach etwas, dass ich nicht verstand. War er vielleicht ein Reisender, der nicht einmal Deutsch sprach? War er vielleicht im falschen Zug gesessen?
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte ich noch einmal langsam und deutlich.
„Nein, nein.“ Es klang nicht überzeugend.
„Wo möchten sie denn hin?“ Ich wurde eindringlicher, berührte ihn am Arm um Hilfe zu signalisieren. Irgendjemand muss dem armen Pendler doch helfen!
„Nein, sie verstehen nicht. Ich übe mit meinem Stock. Ich trainiere hier!“

Ohne ein weiteres Wort ließ ich den Mann seinen Pfad wieder aufnehmen. Links rechts, links rechts. Wie im Training. Meine Mutter hatte ihr Ticket endlich gekauft. Am Parkplatz wartete ein Knöllchen.

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